Albanien, die vergessene Perle am südöstlichsten Zipfel des Balkans, kann einem in weiten Teilen wie das Land der somnambulen Träumer erscheinen, rückständig, starr und inwendig von jahrtausendelangem Schmerz bewegt. Doch es kann einen auch berühren. Denn die Zartheit der Menschen, die Kraft der Jugend, die atemberaubende Landschaft und der Stolz vergangenen Glanzes sind ebenso gegenwärtig und Indiz genug für eine zukunftsweisende Dynamik. Es gibt nur eines, das alle Menschen, ob verzweifelt oder innovativ, in diesem Land miteinander verbindet: Die Sehnsucht nach Deutschland!
Tani, Aldo und Toni… drei Männer verschiedener Konfessionen, Alters und Berufes sind auf meiner Reise durch Albanien die Hauptprotagonisten. In ihnen kondensiert sich das Kräftespiel eines Landes, das nicht von Europa vergessen werden will.Albanien, was bist du?
1.
„Bitte“, sagt der schmale Mann im Halbdunkel der Nacht hinter dem Tresen der Rezeption, „bitte schreiben Sie nicht schlecht über uns.“ Es ist halb zwei Uhr nachts und ich möchte schlafen gehen. Aber ich kann nicht. Der kleine, zarte Mann will reden und hält mich mit seinem Lächeln zurück. Sanft und willfährig. Die Nacht ist noch lang und da sind diese Gedanken, kreisende Gedanken, die darauf warten, für Momente gehalten zu werden. So wie jetzt. Und während er redet, weicht mit einem Mal das Zugewandte von ihm, macht einer Bitterkeit Platz, einem Trotz, einem Jammer, Selbstmitleid und Anklage… einfach allem, was sich in einem Leben, in Generationen, und in Tausenden von Jahren Geschichte ständiger Eroberungen in der Brust eines jeden in diesem Land angesammelt hat und aus Gewohnheit direkt nach innen. „Wohin soll es auch sonst?“, findet Arten Kardhashi, kurz Tani, so der Name des Mannes. Unendlich duldsam scheinen die Gemüter der Albaner zu sein. Zurückhaltend. Ergeben, still. Lieb. Ich finde: Lieb. Es rührt mich. Und es geht mir wie den meisten Reisenden, welche das erste Mal in dieses Land kommen. Sie haben Bilder von Armut und Krieg oder erschreckende Berichte über Blutsfehden in den Köpfen.
Ein unbedeutendes Land. Ein Land, das nicht lohnt bereist zu werden. Und wenn sie dann doch kommen zu einer geordneten Rundreise, neugierig, und weil Albanien plötzlich als Geheimtipp gilt, berührt es sie mit Scham. Albanien ist anders als sie erwartet haben und auch längst nicht mehr so rückständig. Am meisten jedoch mag der Reisende berührt sein, wenn er auf einmal inmitten von Trümmerresten gewaltiger, doch vergangener Hochkulturen steht und sich verblüfft die Augen reibt. Es sind historische Städte wie Antigone oder das von Cicero besungene Butrint, am südlich äußersten Teil des Landes gelegen, schon Jahrhunderte vor Christus von Illyrern und Griechen besiedelt, doch aufgrund seiner formidablen und strategisch günstigen Lage unaufhörlich wechselnden Interessen ausgesetzt.
Cäsar ersann sich in Butrint eine hübsche Veteranenkolonie, die Christen einen Bischofssitz, die Osmanen kamen nach den Byzantinern, die Normannen waren auch mal da und die Venezianer sowieso. Die Liste von Aufbau, Zerstörung, Verschiebung der Landesgrenzen, Flucht und Fremdherrschaft ist lang, im ganzen Land. Von einer Einheit des Volkes kann man nicht sprechen. Die Teilung in Nord- und Südalbanien war eine Folge der Spaltung der Kirche in Ost- und Westrom. Katholisch und griechisch-orthodox. Mit den Osmanen kam der Islam, mit dem Kommunismus der Atheismus. Immer musste man sich anpassen. Heute kann es sein, dass eine einzige Familie mehrere verschiedene Konfessionen vertritt. Albanien führt ein fast vergessenes Dasein am südöstlichen Zipfel des Balkans. Es ist das Land außerhalb der EU, regiert von einer Scheindemokratie und geschwächt von Arbeitslosigkeit. Alles ist schwierig. Die Dürre. Die Politik. Oft genug noch das schiere Überleben. Doch was wir heute als Armut in Albanien verstehen, ist in Wahrheit vor allem ein Gemütszustand und ein Volk, das aus der letzten Fremdherrschaft, dem Kommunismus, noch immer vielfach und merkwürdig somnambul die Gegenwart verschläft. So wie Tani, friedlich und voll guten Willens, doch inwendig von Schmerz bewegt. Kein Wunder, dass sich manche den Kommunismus zurückwünschen, heimlich, denn: „Besser eine sinnlose Arbeit als gar keine Arbeit“, sagt Tani. Er findet das nicht gut, aber kann diese Leute verstehen. „Die Menschen glauben, es gäbe immer noch jemand, der alles für sie richtet.“ So hat der Kommunismus sie erzogen. Auch er ist inzwischen müde. Müde vom Hoffen und müde vom Leben. Er schläft nur manchmal. Zwischendurch. Eigentlich nie. Kehrt er am Morgen von seiner nächtlichen Arbeit nach Hause zu Frau und Tochter zurück, so frühstücken sie noch gemeinsam, dann geht er in seinen kleinen Laden in die Altstadt von Gjirokaster, dem alten Steindorf im Süden Albaniens, von dem man sagt, die Häuser seien wie Festungen gebaut, und hofft auf Touristen. Dort ist er wieder müde, denn es kommen nicht viele Touristen. Noch weniger solche, die etwas kaufen. Allenfalls ein paar Polen, doch die kaufen nicht, die haben kein Geld. Tani schimpft auf die Polen. Denen kann man nicht trauen. Über sein Sortiment denkt er nicht nach. Er wartet auf den Abend. Den Tresen bei Nacht. Die gute Atmosphäre in dem kleinen Hotel. Und ein paar Gäste, die ihm zuhören. Immer wieder. Er seufzt, zieht mich hinter seinen Tisch und sieht mich forschend an. „Sie kommen aus Deutschland? Wirklich?“ Ich nicke, rücke näher, denn er flüstert. Ich weiß nicht warum. Ach, Deutschland! Mein Antlitz wird zu einer Landkarte der Sehnsucht. „In Deutschland ist alles gut.“ Die kaum hörbare Stimme bebt. „Alle, die nach Deutschland gehen, kommen gereinigt zurück.“ Das sagt er. Er meint es auch. „Aber Albanien..!“ Tani stockt.
„Das ist ein Grab. Hier sterben sogar die Träume!“ Er kann das sagen, denn er war selbst mal Heimkehrer. Nicht aus Deutschland, aber aus Ägypten. Immerhin, er hat dort Englisch studiert auf Lehramt… „und als ich zurückkam, brannte ich noch! Ich hatte Energie, ich wollte in meiner Heimat etwas bewegen.“ Ging aber nicht. „Die Menschen hier sind zu Stein geworden.“ Und eines wollen sie auf keinen Fall mehr: „Veränderung! Die Demokratie hat für sie nichts gebracht.“ Er seufzt, denkt über eine islamische Staatsstruktur nach, nicht die böse, die im Westen die Menschen provoziert und erschreckt, sondern die gute, tolerante, die wäre ihm Zukunft, und ich mache erneut einen Versuch zu gehen. „Noch nicht!“, sagt er. „Ich will, dass Sie mich verstehen. Sehen Sie, ich bin Englischlehrer!… und doch arbeite ich hier. Ich habe niemals gelehrt. Ich bin immer nur hier.“ Tani rudert bedauernd mit den Armen. „Das Land gibt mir keine Chancen. Warum sollte ich für dieses Land kämpfen?“ Das Halbdunkel zittert mit ihm und er bittet noch einmal: „Deswegen: Schreiben Sie nicht schlecht über uns. Man hat uns nie in Ruhe gelassen. Wir waren immer nur Opfer.“ Dann löst er sein Lächeln von mir, seine Dramatik und Pathetik, auch die Bitterkeit, lässt mich gehen, entschuldigt sich flüsternd und fällt erneut sanft in seinen nächtlichen Kreis. Vielleicht übersetzt er nun englische Texte, - Auftragsarbeiten, wie er sagt- , oder lernt oder döst, verliert sich unter den Sternen hinweg in das schwarze Nichts der Berge und noch weiter, so wie er es gerne tut, allein in der atemlosen Stille, die in der Dunkelheit weniger schmerzt. Vielleicht. Und vielleicht mag ihn das retten. Doch ob dabei irgendwann ein Stern des Glücks erscheint? Menschen wie Tani begegnet man hier oft. Sie sind liebenswürdig, sie lächeln und nicken mit dem Kopf. Dennoch kann es passieren, dass sie urplötzlich aus der Haut fahren. Ein Messer, das aufschnappt. Ungestüm und gereizt. Es ist nicht persönlich gemeint, eher Ausdruck einer gärenden, sonst stummen Verzweiflung. Und es sind zumeist Menschen, die mit ihrem Bewusstsein oder mit ihrem Leben nicht Teil haben an den neu gebauten Straßen, am Tüfteln in Werkstätten und Tanzen in den abendlichen Bars, wo sich blondierte albanische Mädchen knapp bekleidet an die schmalen, sehr zurückhaltenden Männer schmiegen. Diese Menschen sind dann eher eines jener unzähligen Verkehrsopfer, für die am Straßenrand Gedenkstätten gebaut sind, und die, ähnlich wie die vielen streunenden Hunde, unvorsichtig gehen oder ohne Licht in nächtlicher Finsternis mit alten, klapprigen Fahrrädern fahren, nicht beachtend, dass Albanien inzwischen durchaus, und nicht selten, im schicken Mercedes, durch die Straßen braust. Schlimmstenfalls sind sie auch jener junge Mann, der mit irrem Blick, verfilztem, schwarzen Haar und in ein verlumptes Leinenkleid gewandet, tagein, tagaus gleich einem Gespenst auf der Landstraße stoisch auf und niedergeht, völlig aus Zeit und Raum gefallen, und doch nicht der einzige, der das allabendliche Rufen des Muezzin von den Spitztürmen in den Dörfern überhört. Die Geschichte eines Landes kann an den Schicksalen einzelner kleben wie zäher Kaugummi, kann die Seele zerreiben und als Klagelied im Zuge des Aufbaus versanden. Kann. Die Frage nach Identität bewegt mich. Lange kann ich in dieser Nacht keinen Schlaf finden. Ich frage mich: Wer sind wir wirklich? Und natürlich: Was ist Albanien?
2.
Was Albanien ist? „Albanien ist ein cooles Land“, sagt Aldo am nächsten Tag. Für Geschichtsduselei hat er wenig übrig. Mit forschen und zugleich schwingenden Schritten läuft er über das grobe, glatt gelaufene Steinpflaster der engen Gassen von Gjirokaster, rechts und links weiße Steinhäuser mit hohen Holzfenstern und kleine Innenhöfe. Ich habe Mühe ihm zu folgen. Die Stadt, zwar nur 34 Kilometer von der Grenze Griechenlands entfernt, gilt dennoch mit ihren Trutzburgen als einzigartiges Zeugnis für den islamischen Einfluss in Albanien. 1417, von den Osmanen erobert, wurde sie sogar kurzzeitig osmanischer Hauptsitz, bis dieser Titel an das weiter nördlich gelegene Berat ging. Der Islam als Religion hatte hier dennoch lange keine Chance. Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts kehrte sich das Verhältnis Christen und Muslime um, hinterließ deutliche Spuren in Architektur und Lebensgewohnheiten und machte, dass Gjirokaster heute als Kulturzentrum, besonders für nationale Folklore, vor allem aber ausgewiesenes Weltkulturerbe ist. Auch birgt es manche Persönlichkeiten. Der Diktator Enver Hoxha ist hier geboren, sowie der berühmteste Schriftsteller Albaniens, Ismail Kadare, der mit seinem Roman „Chronik der Steine“ internationalen Ruhm erlangte. Ihm haben die massiven Steine des Dorfes zur Poetik verholfen. Doch die Steine, in ihren Ursprüngen wenig romantisch und literarisch gedacht, sind vor allem billiges Baumaterial gewesen und erwiesen sich zudem als perfekter Schutz gegen Sonne und Kälte. An dem heutigen Tag kann ich das gut verstehen, denn es sind nahezu vierzig Grad. Ein Aufenthalt im Freien ist anstrengend. Dem jungen Mann neben mir macht diese Hitze wenig aus, er ist 21 Jahre alt, fröhlich wie immer, hier geboren, Spross eines jüdischen Zweiges, der im 16. Jahrhundert eingewandert und, im Gegensatz zu den meisten anderen Juden bis heute geblieben ist. Er mag seine Stadt, dennoch hat er sie wie die meisten jungen Leute, vor geraumer Zeit verlassen und ist nun Student der Wirtschaftsinformatik in Tirana, der Hauptstadt Albaniens, die alles und jeden schluckt. Eine Stadt, in der demzufolge zwei Drittel aller Albaner leben, also ca. 2 Millionen, und damit ein dicht gedrängtes Konglomerat von vielfach hinzugezogenen Glückssuchern bildet, welches sich gelenkig durch die irrwitzigen, dreispurigen, sich jeder Logik entziehenden Kreisverkehre in eine verheißungsvolle Zukunft manövriert. Tirana jedenfalls will was. Und Aldo auch. Lernen ist sein Schlüsselwort. Er singt in seiner Freizeit Schubert, pfeift beim Gehen klassisch deutsche Opernlieder, spielt Theater, schreibt englische Gedichte, gewinnt dafür Preise, spricht fließend Italienisch, Französisch und Englisch, nennt sich vage Moslem, weiß aber auch nicht so recht, denn im Grunde ist es egal, und ist mit Abstand der gebildetste und engagierteste Mensch in seinen jungen Jahren, den ich je erlebt habe. Dass er erst 21 ist, kann ich nicht glauben. „Warum bist du so intelligent, Aldo?“, frage ich ihn darum. „Warum?“ Aldo lacht. „Weil ich Jude bin. Ich denke.“ In solchen Momenten fügt er manchmal den ein oder anderen Judenwitz hinzu. Er hat einen Onkel, der, „trust me“, sogar so schlau ist, dass er in einer albanischen Millionärsgameshow solange hintereinander Sieger wurde, bis die Redaktion der Show ihn angefleht habe: „Bitte nimm die zehntausend Euro und komm nicht wieder, sonst haben wir keine Gäste mehr.“ Aldo lacht: „Ein Supertyp. Er weiß einfach alles.“ Liegt wohl in der Familie. Dieser Wissensdurst. Aber, räumt Aldo ein: „Wahrscheinlich bin ich vor allem deswegen so schlau, weil meine Mutter nie zufrieden mit mir war. Sie wusste, es geht immer noch besser.“ Aufgeben ist nicht. Die Mutter ist die Tochter eines Generals und die Erziehung wird mit eiserner Hand geführt. Manchmal ein wenig zu eisern. Und doch: Aldos Augen glitzern. Die Mutter ist sein Ehrgeiz, sein Stolz und alle Dinge, die ihn leiten und umgeben, richten sich wie ein roter Faden nach ihrem imaginären, strengen, doch liebenden Blick. Selbst mein Haar, das die Farbe ihres Haares hat, dunkles Braun, setzt er in dieses Licht. Ein Kompliment. Es klingt fast wie eine Liebeserklärung. Doch es ist mehr. Ich bin auf seinem Radar. Als wir uns kennenlernen, greift er direkt in seine Tasche und zieht ein Päckchen mit Visitenkarten hervor. „Schau mal“, sagt er. „Die habe ich alle schon bekommen...!“ Er beginnt sie mir einzeln vorzulesen und ich gebe ihm meine dazu. Es sind Karten der Verheißung, Tribut persönlicher Größe, ganz klar, aber vor allen Dingen Karten möglicher Zukunft, denn obgleich Albanien cool ist, so will auch Aldo weg, nach Deutschland. Das ist obligatorisch. Zumindest zum Studium. Er steckt das Päckchen wieder in seine Tasche. Irgendwann wird die richtige Adresse dabei sein. Denke ich. Hofft er. Die Semesterferien als Fremdenführer in Gjirokasater sind lang. Und er sammelt weiter. Solvent und zuvorkommend. Zum Träumen bleibt keine Zeit. Er ist der Geldverdiener in der Familie und das ist eine große Bürde. Der Vater arbeitet in einer KFZ-Werkstatt. Da kommt nicht viel rum. Die Mutter ist aufgrund einer Krankheit berufsunfähig und auch der jüngere Bruder hält die Hand auf. Anders als Aldo wirkt dieser eher schlaff, überdies weiblich, was vielleicht daran liegt, dass er ein Mädchen hat werden sollen und darum statt mütterlicher Strenge, immerwährende Nachsicht empfängt. Das ist nicht fair, findet Aldo und strengt sich nur doppelt an. Er rollt oft die Augen über das, was sein Bruder sagt und kann weder verstehen, dass dieser sich neuerdings griechisch-orthodox nennt, seine Zeit sinnlos mit Computerspielen vertreibt, Mangas liebt und von einem Leben in Japan träumt. Und er kann noch weniger akzeptieren, wenn dieser verdrossen behauptet: „Überall auf der Welt geht das Leben weiter, nur nicht in Albanien.“ Aber egal, Geld bekommt der Bruder trotzdem. Familie ist eben Familie.
Ich erzähle Aldo von Tani. Der langen Nacht. Und Aldo verdreht die Augen. „Was ist los?“, frage ich. „Magst du ihn nicht?“ „Nein!“, sagt Aldo genervt. „Warum?“„Ach, es ist nicht so, dass ich ihn nicht mag“... Aldo lenkt ein, „aber allen muss er von sich erzählen und davon, dass er Englischlehrer ist. Why?“ „Er ist traurig“, verteidige ich Tani, „er sieht keine Perspektiven.“ „Ja“, erwidert Aldo ungerührt. „Aber hast du sein Englisch gehört?“ Ich nicke. Aldo hat recht. Ein miserables Englisch. „Und wenn ein Plan nicht aufgeht, dann versuche ich eben den nächsten. Und wenn der auch nicht aufgeht, den nächsten. Immer so weiter. Irgendwann geht einer auf.“ Wo Kraft ist, sind auch Chancen. „Es liegt bei einem selbst“, findet Aldo. Mehr gibts nicht dazu zu sagen. Ungeduldig beginnt er Papageno zu trällern. Sein Deutsch klingt ein wenig rau, wenn er singt. Das gefällt mir. Überhaupt mag ich es, wenn Albaner Deutsch sprechen. Das ist ein Akzent, der unserer Sprache eine gute Note verleiht, doch insgesamt bleibt es befremdlich aus einem Land zu kommen, das für alle ein Synonym der Verheißung ist. Denn das ist niemals real.
Unser Weg führt uns bergab. Den kleinen quirligen Teil, der von Autos überquillt, haben wir schon hinter uns gelassen. Am Fuße der Altstadt verläuft es sich etwas. Letzte Bars säumen den Weg und vor einer dieser Bars treffen wir auf Toni bei seinem mittäglichen Glas Bier. Er und Aldo haben mal zusammen Theater gespielt. Toni war der Polizist und Aldo.... also das erfahren wir erst später, sehr schamhaftes Thema... der Homosexuelle. Es muss ein sehr lustiges Stück gewesen sein mit einem lustvoll gespielten Schwulen. Aber was lustig auf der Bühne ist, ist es im wahren Leben noch lange nicht. Findet Aldo. Homosexualität geht gar nicht. Toni kann darüber nur lachen. Er ist 32 Jahre alt, Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters und hat Cousins in der Stadt wie Sand am Meer. Das ist besonders hilfreich ist, wenn man gerade einen Autounfall mit einem ehemaligen Drogenboss hatte, stammend aus dem reichen und für seinen Cannabisanbau bekannten Nachbardorf Lazarat, der nicht nur zu schnell, sondern vor allem ohne Führerschein und überdies in einem fremden Auto unterwegs war. Denn eines ruft man dann auf keinen Fall: die Polizei. Wir hatten Glück. Wir konnten Toni rufen. Aufgewachsen ist Toni in einem sehr kleinen Dorf in den staubigen Bergen der Umgebung, wo nichts als Gegend ist und wo Bauern noch heute auf kleinem Platz und nur mit dem Nötigsten mit ihren Tieren zusammenleben, Bienen züchten, ihre Esel in die Hügel treiben, ausrangierte Sofas im Feuer entsorgen und kaum noch Notiz davon nehmen, dass am Rande der kleinen Siedlung Historie lagert. Riesige, alte Speicher und ehemalige Ställe, die zu Zeiten des Kommunismus als Waffen- und Vorratslager genutzt wurden.
Spuren des Krieges und Denkmäler finden sich jedoch im ganzen Land. Vor allen Dingen tausende, kleine, runde und zumeist von Gras überwucherte Bunker in den Wiesen und Felsen. Uns erscheint Tonis Heimatdorf, abgeschieden und sich selbstversorgend wie es ist, idyllisch, friedlich und freundlich. Alle Menschen dort wollen uns einladen, mit uns sprechen, uns etwas schenken. Das Dorf ist eine ländliche Kostbarkeit mit eigenständigem Besitz und Land und einer erstaunlichen Zufriedenheit der Menschen, denen Hektik und Konsum fremd geblieben sind. Toni dagegen kann sich gar nicht mehr vorstellen, dort jemals gelebt zu haben. Dennoch hat er sein Elternhaus behalten und kommt ab und zu dorthin, um nach den Obstbäumen zu sehen und im Herbst die Ernte einzuholen. Sein Geld verdient er als Ikonenmaler, also mit dem Anfertigen kleiner, goldener Miniaturbildchen von griechischen Heiligen. Aber seit in Griechenland der Markt dafür eingebrochen ist, hat er immer häufiger nichts zu tun. So wie jetzt. Und auch er ist sich sicher: „Ich sehe hier einfach keine Perspektiven mehr für mich!“ Deswegen lernt er gerade Deutsch. „Halts Maul“, das kann er schon sagen. Wir lachen. Aus seinem Mund klingt es nicht barsch, sondern lustig. Denn Toni ist ein sehr liebenswürdiger und höflicher junger Mann. Toni hat auch eine Verlobte. Sie wohnt in einer anderen Stadt und arbeitet dort an einer Uni. Gerne würden sie zusammen ziehen, Kinder kriegen. Doch dazu reicht das Geld nicht. Toni lebt darum noch immer mit seinen Eltern zusammen. Sie unterstützen sich gegenseitig. Das ist nicht ungewöhnlich, aber auch nicht die Lösung, nach der Toni blickt. Etwas eingeschläfert von seiner zeitweisen Arbeitslosigkeit, ist es ihm daher eine willkommene Abwechslung, wenn er uns beim Durchstreifen des Landes begleiten darf. Plötzlich sieht er manch Schönes und wundert sich, wenn uns die Ödnis des Landes berückend erscheint. Wenn wir in ihr sogar Ressourcen sehen. „Ich bekomme Panik in der Stille“, sagt er dann aber auch und will lieber wieder ins Auto steigen. Doch heute streifen wir nicht mit Toni durch die Gegend, heute gehen wir an der Seite von Aldo durch Gjirokaster. Er zeigt uns, was wichtig ist in dieser Stadt. Und dazu gehört nicht nur die oberhalb gelegene Festung mit Panzern, einem Waffenmuseum und einem abgestürzten, feindlichen Flugzeug, sondern vor allem das im 18. Jahrhundert erbaute Skenduli-Haus, ein altes, vierstöckiges, osmanisches Herrenhaus. Es ist Teil des Unesco-Weltkulturerbes und wurde nach dem Sozialismus an die einstige Besitzerfamilie, die Skendulis, rückübertragen, wissend um die historische Einzigartigkeit, doch ohne finanzielle Hilfe zum Erhalt desselben. Das Inventar, die begehbaren Schränke, die kostbaren Schnitzereien, die Aufteilung der Räume, jede Kleinigkeit dieses hoch kreativen Bauwerkes, in das einst viel Geld gesteckt wurde, illustriert das Leben einer muslimischen Familie zu einer Zeit da die Geschlechter noch streng getrennt voneinander lebten. Wie das genau war, in einer Großfamilie und in einem einzigen Haus, davon berichtet Mr. Skenduli, Nachfahre in neunter Generation. Besonders gerne erzählt er von den ehemaligen Hochzeitsriten und zeigt uns, in welch schmuckem Raum diese abgehalten wurden. Doch als ich ihn frage, wie es für ihn selbst gewesen war, eine Frau zu ehelichen, die er zuvor nie gesehen hat, wird der zurückhaltende, doch sichtbar vom Gram der Hausgeschichte gebeugte Herr, zornig und laut. „Und ist es etwa schlimm?“ Meine arglose Frage trifft auf einen wunden Punkt: Die Enteignung des Hauses durch die Kommunisten war nicht einfach das Wegnehmen eines Wohnbereiches. Es war vor allem die Entwendung von Großfamilie, Lebenskultur, Religion und Persönlichkeit. Bis heute. Aldo erschrickt und glättet schnell die Wogen. Aber Mr. Skenduli hat eh viel zu tun. Mühsam und unwillig erhebt er sich, kümmert sich um andere Geld bringende Touristen, die im Haus seiner Kindheit umherstreunen und blind sind für das, was sie umgibt, sich auch wundern, warum ein großer Stoffhund mit einer Schlinge um den Hals von der Veranda herab baumelt. „Er soll schlechte Energien auf sich lenken“, sagt Aldo. „Und das Haus so vor bösen Absichten schützen.“ Eine weit verbreitete Tradition in Albanien und Schicksal unterschiedlichster Stofftiere. Noch am selben Abend wird Aldo einer polnischen Reisegruppe unterhalb dieser Veranda, vor der Kulisse des dann beleuchteten Skendulihauses mit baumelndem Hund, auf einer Bühne eine osmanische Sängergruppe in traditionellen Gewändern präsentieren. Und Mr. Skenduli, der Gastgeber, wird, dann wieder besänftigt, bei Rotwein und Schnaps mit glänzenden Augen den röhrenden Tönen der Männer lauschen und für Momente glauben: Alles ist wieder gut.
Auf unserem Weg durch Gjirokaster könnte es noch so manch historisch Nennenswertes geben, aber dafür bleibt keine Zeit mehr, denn unser besonderes Ziel des Tages ist Aldos Elternhaus. Es fehlen nur noch wenige Schritte bis dahin und Aldo ist sehr aufgeregt. „Du glaubst nicht, was meine Mutter alles zu Essen bereitet hat!“, sagt er voller Begeisterung. „Seit zwei Tagen kocht und backt sie als sei es ein großes Fest.“ Besuch aus Deutschland. Er ist sehr stolz. Gastfreundschaft ist eine große Sache. Pflicht und Freude. Jedenfalls treibt ihn der Appetit und so viel Köstlichkeiten auf einmal bekam er schon lange nicht mehr auf einmal von seiner Mutter serviert. Wir plaudern und scherzen. Ich nenne ihn Besserwisser und er nennt mich silly, weil mein Englisch schlechter ist als seines. Doch die Fehler, die wir, wenn, im Englischen beide machen, sind die gleichen. Es ist leicht, sich zu verstehen, denn es gibt einen erstaunlich großen, gemeinsamen Kontext, inhaltlich wie sprachlich. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass sich Albanien erst vor wenigen Jahrzehnten, abgekoppelt von der Türkei, für ein einheitliches, lateinisches Sprachsystem entschieden hat. Es macht vor allem auf eine schöne Weise deutlich, wie stark und weitreichend gemeinsame Wurzeln über Landesgrenzen hinweg und nach so vielen unterschiedlichen Einflüssen immer noch in Griechenland verankert sind, sogar im jahrhundertelang islamisch geprägten Gjirokaster. Doch das alles interessiert Aldo jetzt nicht. Er hat Hunger. „Come on, silly girl“, drängt er mich. „My mother is waiting!“ Dann bleibt er endlich stehen. „Wir sind da“, sagt er und deutet auf ein hundert Jahre altes Haus. Nicht ganz so alt wie das von Mr. Skenduli, auch kein Herrenhaus, aber immerhin wie dieses ein Familienerbe. Außerdem markiert es den Übergang zum noch weiter im Tal gelegenen, modernen, in sozialistischer Tristesse gebauten, neuen Gjirokaster. Aldo hält die Türe auf. Wir treten von der Hitze in den Steinschatten. Duft von Essen lockt uns aufwärts. Jetzt ist es soweit. Eine üppige albanische Essenstafel will erkundet werden und auch die kleinen Gebilde hernach im Kaffeesatz meiner Kaffeetasse. Aldos Mutter, so alt wie ich, forsch und zugleich etwas zurückhaltend, prüft sie genau. Englisch kann sie nicht. So ist unsere Kommunikation etwas mühsam und geht hauptsächlich über die Söhne. Aber immer wieder fährt sie mir zärtlich und gar nicht streng durch mein braunes, langes Haar. Ja, ein Mädchen, das wäre was gewesen. Die Mutter scheint glücklich. Und Aldo auch. „Heute ist ein besonderer Tag“, sagt er. Und: „So lieb ist sie normalerweise nicht.“ Er genießt es mit einem breiten Grinsen. Was also Albanien ist? Das Haus der Eltern? Vergangenheit, Armut, Korruption, Erziehung, Religion, Krieg oder Mutter? Diese Fragen sind müßig, findet Aldo. Letztlich. Und belanglos. Denn die Antwort ist einfach: „Wir sind jetzt und wir sind die, die wir sein wollen. Überall auf der Welt. Wir setzen unsere Werte selbst. Und das Glück liegt bei uns.
Toni und Aldos Leben nahm andere Wege als dieser Text vermuten lässt. Toni ist inzwischen verheiratet und hat trotz Phlegma einige deutsche Kunstaufträge ergattern können. Aldo erhielt zwischenzeitlich ein Stipendium durch das Erasmus-Programm, ebenfalls in Deutschland. Dann ging es nicht weiter. Sein Weg stagnierte in einem albanischen Callcenter. Doch das Glück, um bei Aldos Worten zu bleiben, hält niemals an. Es wandelt sich stets und ich wünsche beiden, dass es ihnen gelingt dem Land ein gutes Leben abzutrotzen.
copyright by Simone Harre